Sobald mein wintermüdes Augenpaar das frischleuchtende Blaulila des ersten wagemutigen Gewöhnlichen Leberblümchens (Hepatica nobilis) erhascht, ist sie ungebremst da – die SEHNSUCHT. Pater Anselm Grün schwelgt: “In der SEHNSUCHT wird die Seele weit. Sie zeigt uns, was uns zu unserer Ganzwerdung noch fehlt.”
Nach jeder ewiglich kalten, farbreduzierten Winterszeit ist auch meine Seele immer unendlich weit und voller Erwartung bereit, den vermissten Frühling herein zu bitten. Es heißt, die Augen seien die Tore zur Seele. Die Sehnsuchtsbilder meiner Seele nach einem erquicklichen Augenbad in einem azurblaugefärbten Anemonenmeer sind nicht zu übersehen. Im selben Augenblick wird mir auch die in diversen Kräuterbüchern beschriebene Heilwirkung auf unsere Leber klar und deutlich vor Augen geführt. Nach Auffassung traditioneller asiatischer Heilsysteme besteht eine unsichtbare Meridianverbindung und Wechselwirkung zwischen Augen und Leber. Die Vertreter der europäischen Signaturenlehre erklären die Affinität des luftigen Gesellen zu unserem Entgiftungsorgan mit den dreigelappten, leberähnlich geformten Blättern.
Nach meiner Anschauung liegt die Heilkraft des Leberblümchens jedoch vor allem schlicht und ergreifend am zartblauen Pflanzengeist des Vorfrühlings, der wie ein sanfter Blitzstrahl Augen und Seele durchstößt, um letztendlich in die Mitte unserer Leber einzuschlagen und, ähnlich dem Setzen einer Akupunkturnadel, eine Reaktion in ihr auszulösen. Krankheiten sind die unausweichliche, naturgemäße Folge eines abgedrifteten, zähen mit Blockaden und Hürden gepeinigten Energieflusses in uns. Die Natur mit all ihren elementaren Mitteln dient uns, wenn wir offen dafür sind, als Impulsgeber, um fehlgeleitete oder blockierte körpereigene Prozesse wieder in die richtigen Bahnen zu lenken oder in Schwung zu bringen. Das Geniale dabei ist, dass die inspirierende Wirkung auf unser System auch ohne Berührung funktioniert, wie ich im Falle der Leberblümchen-Blitzakupunktur anschaulich beschrieben habe. So ist uns auch die Welt der sogenannten Giftpflanzen erschlossen, ohne dass wir Schaden erleiden. Kräuterkundige wissen, dass das hübsche Hahnenfußgewächs in frischem Zustand leicht giftig für uns Menschen ist. Bei Trocknung verwandelt sich allerdings das giftige Protoanemonin in das ungiftige Anemonin. Einem Pflücken der lebendigen Blüten nach meinem ausgiebigen Seelenaugenbad steht demnach nichts im Wege, damit ich auch nach Rückzug der Leberblümchenkrieger ins schützende Erdreich bei Bedarf, wie z.B. nach anstrengenden Schreibarbeiten am Computer oder nach einer durchzechten Nacht, ein befeuchtendes, klärendes und leberstärkendes Augenbad in den blauen Freudentränen des Himmels genießen kann.
Die Sehnsucht nach dem bereits am Horizont sichtbaren Frühling ist nun am Ende des Kapitels größer als davor. Aber wie sagt Anselm Grün noch so wunderbar treffend: “Sehnsucht ist die Quelle der Kreativität.” Und ich sage mindestens genauso treffend: “Ohne Kreativität wäre das Leben doch ziemlich trostlos.”
In diesem Sinn wünsche ich viel Sehnsucht auf ein baldiges blaues Wunder!
Eure Sandra
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