Schon spannend, durch wie viele verschiedene Augen ein und derselbe Weg durch ein Waldstück betrachtet werden kann.
Da gibt´s die Augen, die den Wald vor lauter Bäumen und nur den Weg von A nach B sehen, dann jene, die den Wald als eine Anhäufung von vielen Bäumen zwischen undefinierbarem Grünzeug beschreiben. Oder die scheuklappenverdeckten Augen eines hechelnden Stöpsel-in-den-Ohren-Läufers, der nur das Ziel im Tunnelblickfokus hat. Oder durch die geschulten Augen des Försters, den Pfleger des Waldes, der entscheidet, welcher Baum als nächstes der Motorsäge zum Opfer fällt. Oder aus der Sicht des Waldbesitzers, der mit der Steinschleuder bewaffnet hinter der 3. Buche links auf die 2 Moutainbiker wartet, um ihnen eine Lektion zu erteilen. Es gibt auch die Augen der Spezies, die den Weg verlässt und den Wald in bodennaher Trüffelschwein-Haltung nach essbaren Schwammerln durchstreift. Dann gibt´s natürlich den Esoterikblick der Zertifizierten Waldbader, die glückselig die terpengeschwängerte Waldatmosphäre inhalieren, um danach wieder energiegeladen die höchsten Alltagswipfel zu erklimmen. Oder jene Augenpaare, die 4,5 Stunden benötigen, um eine 5m lange Wegstrecke zurück zu legen, weil sie jeden Baum huldigen und für jedes wundervolle Kräutlein am Wegesrand eine Opferzeremonie veranstalten.
Für mich persönlich gleicht im Augenblick jeder Waldbesuch einer abenteuerlichen Reise ins antike KOLCHIS. Kolchis war in der griechischen Mythologie ein Königreich im gleichnamigen Landschaftsgebiet zwischen dem Kaukasus und der Ostküste des Schwarzen Meeres. Kolchis war in der griechischen Argonautensaga die Heimat der “ratwissenden” Frauengestalt MEDEA, die mit ihrem Vater, dem Zauberer und Giftkundigen AITES, einen Garten mit Heil- und Giftpflanzen pflegte. (An dieser Stelle gehört erwähnt, dass JEDE Pflanze das HEIL und das GIFT in sich trägt. Die Menge entscheidet letztendlich über Wirkung und Unwirkung, egal ob grob- oder feinstofflich.) Aites hütete das begehrte Goldene Vlies (eine andere spannende Geschichte). Seine Eltern waren keine Geringeren als der Sonnengott HELIOS und PERSE, die Göttin des Mondes. CIRCE, die ebenfalls zauberkundige Schwester des Aites, lebt und wirkt bis heute im Großen Hexenkraut, in der CIRCAEA LUTETIANA, weiter. Ihre Strahlkraft erbte sie vom Vater, die Kunst der Transformation von der Mutter.
Wer beginnt, seine Augen und alle anderen Sinne unseren grünen Verbündeten zuzuwenden, landet irgendwann bei den oft intriganten, grausamen, aber nicht minder packenden Geschichten der antiken Götterwelt. Viele wissenschaftliche Bezeichnungen der Pflanzen nehmen Bezug darauf. Allen voran COLCHICUM AUTUMNALE, die Herbstzeitlose, die wohl im kolchischen Kräutergarten der Medea ihren Stammplatz hatte.
Die Periode von der Schneeschmelze bis in den Vorfühling ist die Zeit der protoanemoninhältigen Hahnenfüße (Schneerose, Winterling, Leberblümchen, Buschwindröschen, Scharbockskraut, Sumpfdotterblume), deren höherer Auftrag es wohl ist, mit ihren giftigen Alkaloiden die Erdlymphe auf reizvolle Art in Bewegung zu setzen, um das schleimige Phlegma des trägen Winters zum Fließen zu bringen.
Im Moment regieren die allesamt giftigen Euphorbien, die Wolfsmilchgewächse, unsere Waldflora. Ich bade mich zur Zeit gerne ausgiebig in heimischen “Wildhanf”-Plantagen. Das dem Götterboten Merkur geweihte, sehr freiheitsliebende, unscheinbare Wald-Bingelkraut (Mercurialis perennis) überdeckt den nackten Walderdboden und hüllt jeden Besucher in eine Aura der Schwerelosigkeit und Gelassenheit. Sie ist das einzige Familienmitglied, das sich nicht an die Regel hält, einen weißen Milchsaft durch ihre “Adern” fließen zu lassen. Völlig anders präsentieren sich ihre Geschwister im heimischen Medea-Garten. Ob die divenhafte Mandelblättrige Wolfsmilch (Euphorbia amygdaloides), oder die Zypressen-W. (E. cyparissias), die Sonnwend-W. (E. helioscopia) oder die mich vor kurzem völlig in ihren Bann ziehende Süße Wolfsmilch (E. dulcis).
Und damit bin ich nach einer langen Einleitung fast am Ende und dem Grund meiner Geschichte. Der Auslöser meiner Gedanken war ein Foto der überaus faszinierenden Blüte der verzaubernd süßen Giftpflanze.
Es heißt doch, alles was uns begegnet, ist ein Spiegel unserer Selbst.
Schon beim Fotografieren sah ich keine Blüte, sondern eine weibliche Figur mit roten Haaren darin. Beflügelt, jedoch verwachsen mit ihrer stark verwurzelten Mutterpflanze, die Arme weit ausgebreitet, die Hände zu aufnehmenden Trichtern geformt.
Völlig unabhängig und unerwartet führte ich gestern ein sehr inspirierendes Gespräch mit einer wundervollen, tiefgründigen Frau. Sie verriet mir so nebenbei, dass noch viel rote Farbe in meiner Aura zu sehen ist (das will heißen, dass die Wechseljahre noch nicht anklopfen). Sie sagte mir auch, dass Jungfrau-Geborene, so wie ich, oft als Trichter mit Filterfunktion wirken (über die Bedeutung und Auswirkung dieser Aussage muss ich noch nachdenken). Und ich wusste nach diesem Gespräch, wo ich stehe. Im wahrsten Sinne. Ich besitze zwar Flügel, aber ich kann damit nur Wind erzeugen. Ich werde gehindert in die absolute Freiheit und Unabhängigkeit zu fliegen, um meine mir mitgegebenen Aufgaben zu erfüllen, weil ich noch an etwas festgemacht bin, dass mit meiner Ahnenlinie verwurzelt ist.
Vielen Dank an die Technik, die mir manchmal einen vergrößerten Blick in meine Seele gewährt und tausend Dank für die mir geschickten Wegbegleiter und Wegweiser, die mir den Blick in die Tiefe weiten. Meine Gesprächspartnerin wusste rein gar nichts von meiner bildhaften Giftpflanzenbegegnung, half mir aber indirekt bei der Deutung des Bildes und begleitete mich so einen Schritt weiter auf dem Weg in die Freiheit.
Giftpflanzen sind Geschenke des Schöpfers an uns. Sie sind große Lehrmeister, die uns in Awareness und Respekt schulen. Ich finde, wir sollten uns jeder Pflanze, auch den vermeintlich ungiftigen, mit größter Sorgfalt und Achtsamkeit nähern, denn nur so eröffnen sie uns ihr innewohnendes Königreich und gewähren uns einen Blick auf das Goldene Vlies ihrer und letztendlich unserer eigenen Persönlichkeit.
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